Die Stimme einer neuen Generation – Buchrezension zu „die verbrechen“ von Ronya Othmann
„Wenn ich dich verlassen habe, werde ich vor dem Ausgang warten und darauf achten, wo du hingehst. Ich werde dir folgen, bis ich dich finde, ich weiß, dass du früher oder später in meinen Armen landen wirst.“ – Die Worte von Ronya Othmann in ihrem ersten Gedichtband „die verbrechen“ sind so präzise wie ungeschützt, so widerspenstig wie intim, so existenziell wie poetisch.
Othmann, geboren 1993 in München als Tochter kurdisch-jesidischer Eltern, hat bereits mit ihrem Debütroman „Die Sommer“ bewiesen, dass sie eine der herausragendsten Stimmen des jungen deutschsprachigen Literaturbetriebs ist. Jetzt trifft sie uns mit ihrer Lyrik noch tiefgründiger.
In „die verbrechen“ entwirft Othmann ein poetisches Universum, in dem die Grenzen zwischen Begehren und Trauma, Glück und Verzweiflung, Fremde und Identität, Sehnsucht und Schmerz verschwimmen. Die Gedichte handeln von erzwungener Migration und erschütterndem Verlust, vom Kampf gegen Unterdrückung und für Freiheit, vom unstillbaren Verlangen nach Heimat und Ankunft, vom Zusammenspiel zwischen den kleinen Alltagsmomenten und den globalen Katastrophen.
Das Besondere an Othmanns Lyrik ist ihre Fähigkeit, das Leben in all seinen Facetten zu erfassen und zu verdichten, ohne dabei auf ein spektakuläres Pathos oder auf einen beliebigen Kitsch zurückzugreifen. Stattdessen finden sich in ihren Gedichten ein enormes sprachliches Können, ein subtiler Humor, ein tiefes Empathievermögen und eine eindringliche Bildersprache.
Mal fliegen die Worte mit der Leichtigkeit eines Schmetterlings, mal schlagen sie wie ein Sturmwind durch die Seele. Mal klingen sie wie eine zärtliche Liebeserklärung und mal wie ein markerschütternder Schrei. Doch immer vermitteln sie eine brennende Intensität, eine klare Haltung und eine unverwechselbare Stimme.
Besonders beeindruckend sind die Gedichte, die direkt auf politische und gesellschaftliche Ereignisse reagieren, wie zum Beispiel das Gedicht „Jericho“, das sich mit dem Trumpschen Mauerbau an der Grenze zu Mexiko auseinandersetzt, oder das Gedicht „Unruhen“, das sich mit der brutalen Unterdrückung der Proteste in der Türkei auseinandersetzt. Hier zeigt sich Othmann als eine engagierte und kritische Stimme, die keine Scheu hat, ihre Meinung zu äußern und sich für eine gerechtere Welt einzusetzen.
„die verbrechen“ bleibt ein bemerkenswertes Debüt und ein Kunstwerk, das es verdient, gelesen und diskutiert zu werden. Othmanns außergewöhnliche Stimme und ihr feines Gespür für Sprache und menschliche Emotionen machen sie zu einer der aufregendsten Autorinnen unserer Zeit.
Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren und wuchs in Bielefeld auf. Sie ist Tochter kurdisch-jesidischer Eltern und studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Leipzig.